Hass aus Bequemlichkeit

André Bücker, Matthias Brenner

Ein Gespräch für die Wahlzeitung zur Landtagswahl 2016 in Sachsen-Anhalt mit Matthias Brenner, Intendant des Neuen Theaters in Halle, und André Bücker, bis 2015 Generalintendant des Anhaltischen Theaters in Dessau. (Langfassung)

Ein Gespräch für die Wahlzeitung zur Landtagswahl 2016 in Sachsen-Anhalt mit Matthias Brenner, Intendant des Neuen Theaters in Halle, und André Bücker, bis 2015 Generalintendant des Anhaltischen Theaters in Dessau. Wr dokumentieren hier die ungekürzte Fassung des Interviews. 

 

2013 haben in Sachsen-Anhalt Tausende gegen die von der Landesregierung geplanten Kürzungen bei der Kultur protestiert. Wie steht es heute um die Kultur im Lande? 

André Bücker: Es ging ja nicht nur um Kunst und Kultur, es ging auch um die Bildungslandschaft, die Wissenschaft, die Hochschulen. Das ist etwas gewesen, das eine seltene Einigkeit hergestellt hat. Wenn ich mich erinnere, mit wie vielen Menschen wir hier auf dem Universitätsplatz in Halle waren, mit Studenten, Theaterleuten, Museumsleuten, Bibliotheksleuten. Und ich habe in der Zeit auch immer gesagt: Das ist der Rohstoff des Landes – Kultur, Bildung, Kunst, Wissenschaft. Das zählt auch heute noch und müsste in die Zukunft entwickelt werden. Was könnte man schaffen, wenn man diese Leute ließe und ihnen Möglichkeiten gäbe.

Matthias Brenner: Wir können es nur von zwei Seiten ändern. Es muss in der Bevölkerung eine Begehrlichkeit geben. Und es muss, wenn es einen Machtwechsel geben sollte, einen Politikwechsel, auch eine Befähigung geben – eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich ein Land selber am Kragen und am Hosenboden gleichzeitig aus der Scheiße ziehen kann. Da ist so viel Potenzial. Eine Stadt in dieser Größenordnung kenne ich nicht, die so ein kulturelles, künstlerisches Potenzial hat wie Halle. Das finde ich enorm spannend, aber man belässt es im Prinzip dabei und setzt die Spirale nach unten ein. Wir sind mit einem Sumpf zu vergleichen, und die Erdanziehungskraft zieht uns nach unten, da können wir machen, was wir wollen. Und wenn wir es leisten können, dagegenzuhalten, uns immer wieder miteinander herauszuziehen, dann haben wir was geschafft. Dann können wir auch duschen gehen. 

 

Im unlängst vorgelegten Landeskulturkonzept der Fraktion DIE LINKE im Landtag Sachsen-Anhalt spielen Bildung, der Kontakt von Kindern zur Kultur eine große Rolle. Wie wichtig ist da das Theater? 

André Bücker: Vor 20 Jahren hatten das die Theater noch nicht so richtig erkannt, da war von Vermittlungs- oder Bildungsarbeit kaum die Rede. Mittlerweile gibt es kein Theater mehr, das sich nicht theaterpädagogisch engagiert, rausgeht in die Stadt, in die Schulen, aber auch ran an die Lehrer. Wir haben 2014 in Dessau in über 400 Veranstaltungen 16 000 Kinder über die theaterpädagogischen Programme erreicht. Das sind schon enorme Zahlen, besonders in Städten, in denen es viele Probleme gibt, gerade im Hinblick auf Gewaltprävention,  zivilgesellschaftliches Engagement, gegen Rechts. 

Matthias Brenner: Wir hatten gerade erst eine Weihnachtspremiere hier im Neuen Theater. Da sitzen die Kinder drin und begegnen als erstes einem Teufel und seinem Sohn, der geprüft wird. Und plötzlich halten die zu dem Kleinen. Die halten zu einem Teufel, die Fünfjährigen. Das ist so großartig, wie sie der ältesten Theaterfigur mit diesem Widerspruch begegnen und einen Exkurs darüber erfahren, was Ewigkeit heißt und was Eis heißt und was ein Splitter bedeutet im Herzen. Und dass die Umwelt erkalten kann, wenn man dem Teufel nicht begegnet ist, um dagegen anzutreten.

 

Sehr häufig wird an der Kultur gespart. Ein Vorwurf lautet, sie rechne sich nicht. 

André Bücker: Kultur „rechnet“ sich natürlich nie oder nur dann, wenn alle Kosten auf die Eintrittspreise umgelegt würden. Dann kostet eine Eintrittskarte 250 Euro, und dann können wir uns ja ausrechnen, wie viele Leute sich das leisten können. Das kann ja nicht die Kultur sein, die wir wollen. Öffentlich geförderte – und ich sage bewusst nicht subventionierte, sondern öffentlich geförderte – Kultur ist etwas, das im öffentlichen Interesse der Gemeinschaft ist. Diese Kultur muss eine möglichst niedrige Zugangsbeschränkung auch über die Preise haben. In London kommen Sie kostenlos in jedes Museum. Das finde ich fantastisch! Dort hat man erkannt, dass die Kultur wertvoll, ein Wert an sich ist. 

Matthias Brenner: »Arts d’Argent« hat Michel Piccoli mal gesagt – Kunst ist Geld, Kunst kostet kein Geld, Kunst ist Geld. Das kannst du zum Fenster rauswerfen, es kommt in Manteltaschen wieder herein. Wenn ich mit Studenten auf dem Uni-Platz rede, weiß ich, dass die nicht alle ins Theater gehen, aber sie sind ganz wesentliche Transmitter. Dieser Uni-Platz ist eingeklammert von zwei Theaterhäusern – vom Opernhaus und von uns. Das ist ein unglaublich hohes Gut, weil es ein Thema ist. Das sind Bleibegründe in einer Region, Gründe,  in einer Stadt, in einer Kommune miteinander leben zu wollen. Und da muss man aufpassen, dass man die Krankenhäuser nicht abwirtschaftet, die Universitäten, die Kultureinrichtungen. Als letztes schließen dann die Kneipen. Das wissen die wenigsten. Und dann kann man sich nicht mal mehr kollektiv besaufen. 

 

Das Thema Flüchtlinge polarisiert im Moment wie kein anderes und verschafft  der AfD gerade im Osten enormen Zulauf. Was ist zu tun? 

André Bücker: Wir müssen, um überhaupt zu irgendeiner Lösung kommen zu können, weg von dieser furchtbaren Angstkultur, die wir im Moment überall vorfinden. Mit Angst kann man nichts Konstruktives machen. Angst ist eine schlimme Waffe. Noch vor kurzem hieß es, man müsse Angst haben, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, weil sich dort eingesickerte Flüchtlinge als ISIS-Kämpfer enttarnen und  in die Luft sprengen. Da wird ein Länderspiel abgesagt, und keiner weiß, warum. Man muss bei dem Flüchtlingsthema die Leute mit den Alternativen konfrontieren. Gregor Gysi hat in der Bundespressekonferenz die Frage gestellt: Was wollen Sie machen, wollen Sie die Leute alle erschießen? Das ist die zentrale Frage, darauf fällt alles zurück. Auf die Frage, ob wir an unseren Grenzen auf Menschen schießen wollen, die zu uns kommen, um sich zu retten. Diese Frage müssen wir für uns klären. Und wenn es in Deutschland tatsächlich eine Mehrheit dafür gibt, dass wir an unseren Grenzen auf Menschen schießen, die vor Gewalt flüchten, dann wandere ich aus. Wer von uns erlebt denn schon eine Beeinträchtigung seines Lebens? Wer lebt denn jetzt schlechter, wo ein paar Hunderttausend Flüchtlinge da sind? Sind Lebensmittel rationiert, sind Autobahnen gesperrt worden?  Wird man nicht mehr behandelt im Krankenhaus? Kriegt man sein Arbeitslosengeld nicht mehr? Nichts dergleichen! Dieses Land funktioniert. Und es würde auch mit noch mehr Menschen weiter funktionieren. Das ist doch gar nicht die Frage. Doch es wird mit Verlustängsten gespielt und Hass geschürt. Das ist einfach Hass aus Bequemlichkeit.

Es gibt eine Entgrenzung in der Provokation, die alles ins Extreme zieht und auch als Waffe benutzt wird. Gerade über das Internet kriegt man vorgeführt, wie viele sich da völlig entmenschlichen, wenn sie sagen: Bindet denen Steine ans Bein und schmeißt sie in den See. Wer das dann tatsächlich tun würde, ist noch eine andere Frage. Aber dass man sich öffentlich so äußert, das ist solche Verrohung. Man muss Menschen damit konfrontieren und sie dazu bringen, darüber nachzudenken, was sie da tun. Macht euch bewusst, was ihr da tut! Worte sind Taten. 

Matthias Brenner: Genau deswegen sage ich ganz öffentlich: Ich bin an einem Politikwechsel in Sachsen-Anhalt interessiert. Nicht nur, weil ich hier Kultur- und Kunstschaffender bin, es hat bei mir auch eine instinktive Komponente, dass wir eine Riesenchance versäumen, wenn wir das konservieren, was da ist. Da gibt es nichts zu konservieren. Es ist nämlich nicht allzu viel da. Es ist ganz viel Kredit in Lebenslust verbraucht, und es ist ein hohes Gut, ein hohes Glück, dass man neben allem Hass, den man erleben muss, mit einer empathischen Ader ausgestattet ist. Und die kann man jetzt umsetzen. Das fällt vielen schwer, ich will sie nicht kleinreden, die Konflikte, die es in den Kommunen gibt. Aber einfach zuzumachen, dichtzumachen, zu sagen, wir bauen uns noch eine Armee um Europa, das ist der Tod, und das ist der gewählte Tod, das ist der bestellte Tod! Das sind Killer, die engagiert werden müssen, um andere Menschen abzudrängen, auch billigend den Tod anderer in Kauf zu nehmen. Und das bestellen wir per Scheckkarte. Wir haben überhaupt nicht so viel auf dem Konto, um das zu bestellen. Das geht einfach nicht. Und deshalb sage ich ganz klar, hier gehört ein Politikwechsel her. Meine Sorge ist: Kann DIE LINKE, wenn sie die Wahlen gewinnen und einen Ministerpräsidenten stellen will, offen sagen, dass sie für die Aufnahme von Flüchtlingen ist, oder wäre es stimmenmäßig nicht besser, sie hielte sich da zurück. Das ist eine taktische Frage. Da steht man nämlich ziemlich allein da, wenn man sich heute so äußert.  Und ich hoffe sehr, DIE LINKE bleibt trotzdem dabei und sagt das ganz offen, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihr Wahlziel dann vielleicht nicht erreicht. Das ist dann eben so.  Wenn wir jetzt alle Wahltaktiker werden, dann verrecken wir auch. Wir haben es mit denen von der AfD zu tun, die jetzt hochplatzen wie die Pilze, und die Leute wissen noch nicht, wie giftig die sind. 

 

Welche konkreten Erwartungen hätten Sie an DIE LINKE. Sachsen-Anhalt in  Regierungsverantwortung?

Matthias Brenner: Ich will mal mit einem Negativbeispiel anfangen. Der Kulturminister Sachsen-Anhalts, Stephan Dorgeloh, hat sich anhören müssen, er sei ein Minister der Steine und nicht der Menschen. Das ist für mich der allerwichtigste Punkt. DIE LINKE ist eine Partei, die aus der Opposition kommt. Sie hat mit der Vergangenheitsstruktur der DDR nichts mehr zu tun, aber die Menschen aus der DDR dennoch nicht vergessen. Ich glaube, linkes Denken heißt, ein hohes Maß an Toleranz dem Andersdenkenden gegenüber zu haben. Und genau das erwarte ich von einer Opposition, die an die Regierung will: das Andersdenken zu fördern. Als Bühne, als Umstand der Diskussion und des Diskurses miteinander. Und ich würde es gut finden, sich mit Wünschen an uns zu richten. Nicht mit Aufträgen, sondern mit Wünschen, wo man sich miteinander formieren könnte. Dass die Politik darüber spricht, was sie selber als ihre Nöte empfindet, wo sie Fehlstellen hat, die sie nicht ausfüllen kann. Also zu sagen, wo man gebraucht wird. Wobei ich nicht nur gebraucht werden will, sondern auch gemeint sein möchte. Als Partner.