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30 Jahre Rostock-Lichtenhagen - Nachwirkungen eines rassistischen Pogroms

Beschluss des Landesvorstandes DIE LINKE. Sachsen-Anhalt

Die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 gehörten zu den größten rassistischen Ausschreitungen im wiedervereinten Deutschland. Hunderte Menschen, vor allem Flüchtlinge und vietnamesische Vertragsarbeiter:innen, bangten über Tage um ihr Leben.

In ganz Deutschland nahmen in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung Angriffe auf Migrant:innen zu. Gleichzeitig verschärfte sich der Ton in der Asyldebatte in Reaktion auf die wachsende Zahl Schutzsuchender, die vor den Kriegen auf dem Balkan flohen. Neonazis attackieren vermehrt Flüchtlingsunterkünfte, immer wieder gab es dafür offene Zustimmung aus der Bevölkerung. Auch in Rostock zielten die Angriffe auf die ZAST, die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, und den Wohnblock für die ehemaligen Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam. Das dortige Geschehen hatte allerdings eine besondere Dimension. In Rostock griffen Neonazis und Nachbarn gemeinsam an. Die Pogrome vor dem „Sonnenblumenhaus“ entwickelten sich zu einer Art Volksfest im Stadtteil. Bis zu 4.000 Menschen beteiligten sich. Polizei und Politik ließen sie gewähren; es gelang nicht, die Ausschreitungen nicht stoppen.

Am Abend des 22. August 1992 begannen jugendliche Angreifer damit, Gehwegplatten zu zertrümmern und diese als Geschosse gegen die ZAST zu werfen. Auf der großen Freifläche vor dem Wohnblock sammelten sich tausende Gewalttäter:innen und Schaulustige. Die ersten Fenster gingen zu Bruch, bald flogen Brandsätze in das Gebäude. Bis in die Morgenstunden zogen sich die Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nach erneuten Angriffen und andauernder Belagerung am Sonntag und Montag wurden die Asylbewerber:innen aus der ZAST schließlich in Busse verfrachtet und in andere Unterkünfte verbracht. Aber die Gewalt ebbte nicht ab. Auch am Montagabend fanden sich erneut Tausende ein, nun wurde der Wohnblock der Vietnames:innen in Brand gesetzt. Schaulustige versperrten der Feuerwehr den Weg. Über 100 Menschen im Haus, Männer, Frauen und Kinder, waren dem Mob schutzlos ausgeliefert. Unter ihnen waren auch der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter und ein Fernsehteam des ZDF. Auch die Anrufe Richters bei der Polizei brachten keine Rettung. Die Angegriffenen blieben im brennenden Gebäude auf sich allein gestellt, brachen in Todesangst die Zugänge zum Dach auf und flüchteten auf dramatische Weise in die benachbarten Hausaufgänge. Auf der Suche nach Sicherheit klingelten sie bei den deutschen Nachbarn. Nur wenige Wohnungstüren öffneten sich.

Über all die Tage hinweg stand die Einsatzleitung der Gewalt taten- und kopflos gegenüber. Verantwortliche der Ordnungskräfte und Behörden tauchten ab, waren im Wochenende oder im Urlaub. Die wenigen Polizeikräfte wurden zu spät eingesetzt oder gar abgezogen, ein späterer Untersuchungsausschuss konnte das Versagen nur bestätigen, das sich vor aller Augen abspielte.

Rostock zeigte im größerem Maßstab, was vielerorts passierte. Bereits ein Jahr zuvor wurden im sächsischen Hoyerswerda Vertragsarbeiter:innen- und Bewohner:innen des Flüchtlingswohnheims angegriffen und vertrieben. Auch hier hatten hunderte Anwohner:innen die Neonazis unterstützt. Nur eine Woche nach den Ereignissen in Rostock gab es Angriffe in mindestens zehn ostdeutschen Städten auf Flüchtlingsunterkünfte, u.a. in Oschersleben, Stendal, Greifswald und Cottbus. Am 7. September 1992 wurde das Flüchtlingsheim in Quedlinburg in Sachsen-Anhalt belagert. Fast eine Woche lang dauerte die Gewalt an. Die Rassist:innen griffen dabei auch die Mahnwache an, mit der Einheimische versuchten, die Flüchtlinge zu schützen. Nachbarn, Mitschüler:innen und Kolleg:innen standen sich gegenüber.

Mitglieder der PDS gehörten zu den wenigen Widerständigen, die Geflüchtete in Quedlinburg und andernorts geschützt und unterstützt haben. Als die PDS die rassistischen Übergriffe im Landtag thematisierte, wurde sie verhöhnt und beschuldigt, mit ihrem Widerstand die Übergriffe begünstigt zu haben.

Ort für Ort ähnelten sich die Abläufe. Der Mob hatte freie Bahn, solange es gegen Ausländer:innen und Flüchtlingsunterkünfte ging. Viele Anwohner:innen applaudieren, die Behörden ließen die Dinge laufen. Die Polizei schaute weg oder griff erst ein, sobald Antifas auftauchten oder um die Evakuierungen zu flankieren. Die Angriffe waren somit erfolgreich, die Lernkurven fatal: Die Flüchtlingsheime wurden geräumt. Die etablierte Politik erklärte die Ausländer:innen zum Problem und nicht die Rassist:innen. Mit Blick auf die steigende Zahl der Asylanträge und die explodierende Gewalt veränderte der Deutsche Bundestag schließlich das Asylgesetz an entscheidender Stelle. Abgeordnete der Union, SPD und FDP stellten im Dezember 1992 die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Neuregelung. Mit der Änderung des Artikels 16 wurde das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft. Der Gewalt gab das nur weiteren Auftrieb. Wenige Tage nach Inkrafttreten der Verschärfung starben fünf Menschen bei einem Brandanschlag in Solingen.

Die rechte Gewalt in den 1990er Jahren war so alltäglich, dass es im Rückblick überrascht, wie wenig ihr entgegengesetzt wurde. Das alles passte nicht zur nationalen Euphorie der Wiedervereinigung, die, je mehr sie in der persönlichen Wertung verblasste, umso stärker von offizieller Seite beschworen wurde. Systematisch ausgeblendet wurden die Erfahrungen, die Migrant:innen, Linke oder Queers machten mussten. Diese merkten schnell, die Wiedervereinigung war nicht nur eine Zeit des Aufbruchs, sondern gleichzeitig eine der Ausgrenzung und Gewalt. Heute wissen wir, dass seit 1990 über 200 Menschen durch rechte Täter:innen ihr Leben verloren.

Die Angriffe geschahen sowohl in West- als auch in Ostdeutschland, Nazistrukturen vernetzten sich erfolgreich. Der Resonanzboden im Osten war allerdings ungleich größer. Rassist:innen konnten sich dort als willkommene Ordnungsmacht erleben, in einer Zeit voller Widersprüche und Frustrationen. Die Delegitimierung der DDR als Staat fiel letztlich zurück auf jedes einzelne Individuum. Nichts, was aus dem Osten kam, zählte mehr. Viele gingen weg, alle mussten etwas Neues wagen. Nichts entgegenzusetzen hatte der Einzelne aber der Wucht, mit der Politik und Wirtschaft den Osten zum Absatzmarkt umstrukturierten, und damit den Westen als Produzenten stabilisierten. Statt die Treuhand zu stoppen, startete die Bonner Regierung mit den Privatisierungen und Entlassungen im Osten erst noch richtig durch. Dafür gaben die politischen Eliten der dumpfen Gewalt nach, und nutzten, wie schon in den 1980er in der Bundesrepublik, das Thema Asyl als Ventil.

30 Jahre nach den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen und Quedlinburg halten wir als Landesverband der LINKEN in Sachsen-Anhalt fest:

Das Problem heißt Rassismus

Wir halten die Erinnerung wach und stärken die Perspektiven der Betroffenen, der Marginalisierten und der lange Vergessenen. Geschichte und Gegenwart braucht neue Erzählperspektiven, Sichtbarkeiten und Vermittlungsformen.

Wir stehen zusammen – gegen Nazis und Rassist:innen im Parlament, auf der Straße und im Betrieb. Wir sind solidarisch mit den Betroffenen rechter Gewalt. Auch Genoss:innen sind immer wieder Ziel solcher Angriffe. Wir organisieren Schutz und Solidarität. Denn nach wie vor arbeitet eine entschlossene Minderheit daran, das Land autoritär umzubauen, Zugänge zu beschränken, die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu zementieren. Wir verteidigen die Demokratie, wir wollen Wirtschaft und Gesellschaft sozialer, gerechter und inklusiver.

Menschenrechte sind unteilbar

Fluchtbewegungen sind Ausdruck von Krisen und globaler sozialer Spaltung. Es braucht endlich ein Umdenken in der Asylpolitik, die seit Rostock-Lichtenhagen zu einem Instrument der Flüchtlings-Abwehr verkommen ist. Gesetze kann man ändern: Das Konzept vermeintlich sicherer Drittstaaten ist längst gescheitert. An den Grenzen Europas findet man keine Schutzräume und menschenwürdige Aufnahme, dort wartet viel eher der Tod.

Die Kettenduldungen müssen enden. Der Pfadwechsel zur Integration, den die Bundesregierung angekündigt hat, darf nicht mit Verschärfungen und Repressionen gegen andere Gruppen erkauft werden. Die Aufnahmepraxis der Geflüchteten aus der Ukraine hat gezeigt, was möglich, nötig und richtig ist: Schneller Zugang zu Arbeit, Sprache und Wohnung, kein Zweiklassensystem bei Unterstützungsleistungen, kein Sonderstrafrecht, das Ausländer:innen unmündig hält.

Wehrhafte Demokratie

Wir stellen uns gegen die Verleugnung und Entpolitisierung rassistischer Einstellungen und Gewalt. Das verharmlost die Gefahren und lässt potentielle Opfer im Stich. Hasskriminalität gehört qualifiziert polizeilich erfasst und als Tat-Motivation in der Strafverfolgung und juristischen Bewertung entsprechend beachtet. Es dürfen nicht weitere Jahrzehnte folgen wie die, in denen die Sicherheitsbehörden rechte Strukturen noch stabilisierten und blind und handlungsunfähig waren gegenüber der tödlichen Gewalt des NSU und anderer Täter:innen.

Mit einem Demokratiefördergesetz wollen wir Netzwerk- und Beratungsstellen und Präventionsarbeit auf eine verlässliche Grundlage stellen. Wir danken den zivilgesellschaftlichen Initiativen und den kritischen Journalist:innen für ihre Arbeit, durch die Betroffene und Multiplikator:innen Hilfe und Stimme bekommen. Wir danken allen Engagierten, die sich dem Hass entgegenstellen, Aufklärung und fachliche Reflexion einfordern und an die Menschen erinnern, die durch rechte Gewalt starben.

Beschluss des Landesvorstandes DIE LINKE. Sachsen-Anhalt
Magdeburg, 11. Juli 2022