»Nehmt den Wessis das Kommando!« - Einstieg in eine notwendige Debatte.

Eva von Angern, Stefan Gebhardt

Gläserne Decke für Ostdeutsche: »Der Wessi ist immer der Chef«

Drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit gilt für die Mehrheit der Ostdeutschen. »Der Wessi ist immer der Chef«1. In Ostdeutschland werden zwei Drittel der hundert größten Unternehmen von Westdeutschen geführt.2 Auch sonst gilt es als normal, dass Ostdeutsche auf den Kommando- brücken nichts zu melden haben. »Gerade in den Konzernen, die sich sonst mit Diversity-Initiativen ... schmücken, sind ostdeutsche Spitzenkräfte rar«, stellte das Handelsblatt im September 2020 fest. Und weiter: »Auf der einen Seite die ‚Wessis‘, die die Republik verwalten, regieren und gestalten. Auf der anderen die ‚Ossis‘, die unter den Mächtigen und Einflussreichen kaum zu finden sind.« Warum dies so ist? Den Ostdeutschen fehlen halt die interessanten beruflichen Biografien, meint der Autor und: »Wessis befördern Wessis«.3

Im Dezember 2020 legte eine Kommission des Deutschen Bundestages einen Bericht zum Stand der deutschen Einheit vor, der seitenweise Daten über die »Minderrepräsentanz«, der Ostdeutschen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft liefert. »In ganz Ostdeutschland werden nur knapp ein Viertel aller Spitzenpositionen in Verwaltung, Justiz, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft mit Ostdeutschen besetzt (bei einem ostdeutschen Bevölkerungsanteil von über 85 Prozent)«4. Die FAZ resümiert: »Ostdeutsche sind dramatisch unterrepräsentiert«.5 »Ein absolut unhaltbarer Zustand«6, so der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck. Das klingt zupackend. Doch schon 2017 hielt die damalige Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke, »die Unterrepräsentanz der Ostdeutschen für demokratie- gefährdend«7. Die Ergebnisse der Potsdamer Elite-Studie von 19958 wiesen übrigens für Führungspositionen in den neuen Bundesländern noch einen Ost-Anteil von 60 Prozent aus. Dennoch gilt weiterhin das Prinzip des Nichtstuns. Denn eine Quote für Ostdeutsche will die Kommission immer noch nicht empfehlen, sie sei so Platzeck, »weder justitiabel noch praktikabel.« Platzeck und Gleicke haben wenigstens ein schlechtes Gewissen. Das Kabinett Haseloff hält die Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in Leitungspositionen für »naturgemäß« und »zwangsläufig.«9

Über diese organisierte Verantwortungslosigkeit erregt sich niemand, sondern diejenigen, die auf überfällige Veränderungen bestehen, werden an den Pranger gestellt.

Wie ist die Situation in Sachsen-Anhalt? Für die gezielte Personalentwicklung jungen, ostdeut- schen Nachwuchses wird zu wenig getan. Nach einer Erhebung aus dem Jahre 2018 kamen in den meisten Ministerien die Mehrzahl der Leiter:innen von Abteilungen, Referaten und Stabstel- len aus dem Westen.10 Die Minderheit der Rektor:innen und Präsident:innen der Hoch- und Fachschulen kommen aus dem Osten. In einigen Landesbehörden, wie z.B. dem Uniklinikum Halle oder auch der Polizei, ist der Anteil der ostdeutschen Führungskräfte gegenüber den späten 90er Jahren sogar noch gesunken. Deswegen brauchen wir eine gezielte Förderung des ostdeutschen Nachwuchses in jeder Landesbehörde. Befristete Arbeitsverträge für Berufsein- steiger sollten der Vergangenheit angehören, damit junge Leute nicht abwandern.

Wenn Angehörige einer bestimmten Gruppe trotz entsprechender Qualifikation nicht aufsteigen, spricht man in der Soziologie von einer gläsernen Decke (glass-ceiling-effect)11. Die Schlussfol- gerung aus dieser Debatte heißt Gleichstellung per Gesetz. Durch informelle und marktbasierte Mechanismen ist sie nicht herstellbar.

Ausbeutung der Ost-West-Unterschiede

Im Osten wird billig produziert. Das Geschäftsmodell der Niedriglohnzone Ost sichert die verlängerten Werkbänke für die Konzerne im Westen ab. Ostdeutsche sind auf dem Lohnzettel Bürger:innen zweiter Klasse. Sie arbeiten länger und verdienen rund 20 Prozent weniger als Beschäftigte in den alten Ländern. Die innerdeutsche Lohnlücke frustriert viele Menschen, weil sie das Gegenteil des propagierten Leistungsprinzips darstellt. In Sachsen-Anhalt arbeiten die Menschen durchschnittlich 75 Stunden länger im Jahr und erhalten fast 3.000 Euro weniger Jahreslohn als im Nachbarland Niedersachsen12. Das sind übrigens auch im Bundesvergleich die längsten Arbeitszeiten. Rund ein Drittel der ostdeutschen Vollzeitbeschäftigten arbeiten zu Niedriglöhnen. In Westdeutschland sind es 16 Prozent. Der Hälfte der Vollzeitbeschäftigten in den neuen Ländern droht eine Minirente, trotz jahrzehntelanger Arbeit. Im Niedriglohnland Sachsen-Anhalt sind etwa 100.000 Kinder arm oder von Armut bedroht. Die Anzahl der Firmen mit Hauptsitz in Sachsen-Anhalt ist rückläufig. Allein im Zeitraum von 2006 bis 2018 hat das Land fast 10.000 kleine und mittelständische Betriebe verloren.

Dies geht einher mit dem Rückzug des Staates und der öffentlichen Daseinsvorsorge aus der Fläche. Seit 1991 sind in Sachsen-Anhalt 872 Schulen und 749 Kindertageseinrichtungen sowie 23 Krankenhäuser geschlossen worden. Der Abbau der öffentlichen Infrastruktur hat ganze Städte und Gemeinden abgehängt. Rund 678 Kilometer Schiene der Deutschen Bahn sind seit 1995 in unserem Bundesland stillgelegt worden. In keinem Bundesland wurde mehr abgebaut als in Sachsen-Anhalt. Allein seit dem Jahr 2000 wurden 98 Bahnhöfe stillgelegt. Dieser »Abbau Ost« muss dringend gestoppt werden.

Das Fortbestehen ungleichwertiger Lebensverhältnisse ist kein Betriebsunfall der deutschen Ein- heit, sondern politisch gewollt. Von der Ausverkaufspolitik der Treuhand, dem Plattmachen der ostdeutschen Konkurrenz über die Absicherung der Niedriglohnzone Ost durch die Agenda 2010 und die verstärkte Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zieht sich eine politische Linie. Sie besteht in der Ausbeutung der Ost-West-Unterschiede als wirtschaftliches Geschäfts- modell, dessen soziale Folgeschäden mit Staatsgeldern bezahlt werden müssen. Die konsequente Fortsetzung dieser Politik ist das Fernhalten der Ostdeutschen von den Schlüsselstellen in Staat und Gesellschaft.

Ostdeutsche Interessen und Identitäten

Seit Jahrzehnten erleben wir immer wieder das gleiche Schauspiel. Bestehen Ostdeutsche auf ihrer Kritik an den Missständen, verlangen sie die Korrektur ihnen übergestülpter Strukturen, gilt das als unangemessenes Verhalten. Was gut für den Osten ist, wird im Westen bestimmt. Das ist Bevormundung.

Die Konsequenzen sind alles andere als verwunderlich. Nach einer Allensbach-Umfrage fühlten sich 2019 47 Prozent der Bürger:innen Ostdeutschlands ausschließlich als Ostdeutsche, 44 Prozent geben eine gesamtdeutsche Identität an.13 Der Begriff der (ostdeutschen) Identität ist vieldeutig, eine Frage des politischen Blickwinkels, der Herkunft und der Erfahrung. Für unsere Debatte ist vor allem von Belang, dass ostdeutsche Identitäten als etwas wahrgenom- men werden, was zu verschwinden hat, als etwas, was nicht normal ist. Eine Abweichung, die man duldet, aber nicht akzeptiert. Und auf die besser nicht bestanden wird, wenn man Karriere machen will. Ossis, werdet Westdeutsche! So lautet seit dreißig Jahren das Kommando. Der Eigensinn und die Renitenz, mit der viele Ostdeutsche dies seitdem ignorieren, wird ihnen wohl am meisten übelgenommen.

Wenn Ostdeutsche ihre Erwartungshaltungen an das, was der Staat zu leisten hat, äußern, halten sie mehrheitlich viel von einem funktionierenden Schulsystem, gemeinsamen Lernen, flächendeckenden Kitas, öffentlichen Krankenhäusern, Gemeindeschwestern auf dem Dorf, einheitlicher Sozial- und Gesundheitsversicherung, höherer Bildung für alle und erschwinglichen Mieten. Die regelmäßigen Sachsen-Anhalt-Monitore belegen das. Im Unterschied zu Westdeut- schen, die Gleiches fordern, wird ihnen jedoch reflexartig die alberne Vorhaltung gemacht, die DDR zurückzuwollen und damit die Berechtigung ihrer politischen Meinung abgesprochen.

Ähnlich wie in dem untergangenen anderen deutschen Staat wird vor allem Dankbarkeit und Unterordnung unter das Bestehende erwartet, so als ob die Ostdeutschen seit der Wiederver- einigung nichts Eigenes geleistet und hervorgebracht hätten und die Leistungen in den Jahren davor nichts zählen.

Im Umgang mit ostdeutschen Biografien, Lebensentwürfen und Interessen hat sich im dreißigs- ten Jahr der deutschen Einheit eine Un-Kultur der Verachtung verfestigt, vor der sich noch immer zu viele Ost- wie Westdeutsche gleichgültig oder resigniert wegducken. An dieser Stelle sagen wir: Wir sind dankbar dafür, dass wir durch unsere ostdeutsche Herkunft, so viel Solidari- tät, Widerspruchsgeist und Toleranz erfahren und gelernt haben. Deswegen verstehen wir es als Teil unserer demokratischen Verantwortung, uns kritisch mit der herrschenden Erinnerungspoli- tik auseinanderzusetzen, die immer wieder verdienten ostdeutschen Persönlichkeiten systema- tisch die Wertschätzung versagt. Gerade in Sachsen-Anhalt wurden in jüngster Zeit durch den herabsetzenden Umgang mit Sigmund Jähn und Täve Schur besonders traurige Beispiele dafür geliefert. Wir wissen, auch in Sachsen-Anhalt fühlen sich viele Menschen auf Grund ihrer ostdeutschen Biografie zurück- gesetzt, dies hat schwerwiegende Folgen für die Bewertung demokratischer Institutionen in unserer Gesellschaft.

Der Zukunft zugewandt

Im dreißigsten Jahr der deutschen Einheit ist das starre Festhalten an Strukturen und Verhaltensmustern der alten Bundesrepublik kein Zeichen von geistiger Souveränität und politischer Gestaltungsmacht. Keiner Gesellschaft bleibt der Preis für das Versagen ihrer Eliten erspart.
In der gegenwärtigen Krise werden allen die Ungerechtigkeiten unseres Sozialsystems, die Schwächen unseres Bildungs- und Gesundheitssystems schonungslos vorgeführt. Was dagegen gut funktioniert, ist die skrupellose Bereicherung der Wenigen auf Kosten der Vielen.

Unser Land verändert sich und muss seinen Weg in einer sich unumkehrbar globalisierenden Wirtschaft, in einer Welt, die vor gemeinsamen Herausforderungen, wie dem Klimawandel steht, neu bestimmen. Die bestehenden Ost-West-Disparitäten sind dabei ein ungelöstes Problem von vielen. Doch die Bereitschaft der Menschen, Veränderungen mitzugestalten und Reformen mitzutragen, nimmt unweigerlich ab, wenn die Lösung ihrer unmittelbar existenziellen Probleme, wie die fortbestehende Lohn- und Rentenungerechtigkeit, weiter auf die lange Bank geschoben wird.

Unser demokratischer Staat ist gefährdeter denn je, weil sich viele Menschen von ihm abgewandt haben. Auch hier ist die Minderrepräsentanz von Ostdeutschen in den Schlüssel- positionen von Wirtschaft und Politik, Verwaltung und Wissenschaft eine Ursache. In unserer Gesellschaft wird viel über Partizipation und Mitgestaltung geredet und viel zu wenig dafür getan. Dieser schöne Schein verblasst sehr schnell, wenn es um die abgeschotteten Besitzstände und Machtpositionen alter Eliten geht. Die Botschaft, die sich damit verbindet, ist längst im Alltag angekommen und sie betrifft nicht nur Ostdeutsche: Demokratie ist, wenn ihr draußen bleibt. Diesen Zuständen haben viele Menschen in vielen Bereichen seit langem den Kampf angesagt. Wenn dabei die Kritik im Saale bleibt oder auf Konferenzen und in wissenschaftlichen Studien geäußert wird, darf sie auf ein gewisses Verständnis hoffen. Aber nur, solange keine ersthaften Konsequenzen eingefordert werden. Und für die ostdeutsche Verwaltung, die Gerichte und Staatsanwaltschaften, die Wissenschaftsinstitutionen, das Management der bestimmenden Unternehmen, heißt dies »Nehmt den Wessis das Kommando!«

1|  www.springerprofessional.de/personalmanagement/transformation/der-wessi-ist-immer-der-chef/17223048
2|  Entwurf des 6.Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Stand Januar 2021, S.398/99; infothek.paritaet.org/pid/fachinfos.nsf/0/47aafdff07c362a6c125868f002b0c6a/$FILE/ARB_6-Entwurf.pdf
3|  www.handelsblatt.com/karriere/30-jahre-mauerfall-warum-ostdeutsche-noch-immer-selten-karriere-machen/25048834.html?ticket=ST-4846604-dLfOoWDOle1pEDfrDOq3-ap2
4|  Deutscher Bundestag, Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit, Drs. 19/26215, S. 80: dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/262/1926215.pdf
5|  www.faz.net/aktuell/politik/inland/ostdeutsche-dramatisch-unterrepraesentiert-17090694.html
6|  a.a.O.
7|  www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2017/20171009-anhaltende-unterrepraesentanz-von-ostdeutschen-in-fuehrungspositionen.html n
8|  www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/296773/kaum-posten-fuer-den-osten
9|  Landtag von Sachsen-Anhalt, Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Landtag von Sachsen-Anhalt, Land Sachsen-Anhalt: Dreißig Jahr Land der Bundesrepublik Deutschland, 25.02.2021, Drs. 7/7329, S. 5
10| Antwort der Landesregierung auf die kl. Anfrage der Abg. Eva von Angern und Kristin Heiß (DIE LINKE), Drs. 7/3455, 12.10.2018
11| David A. Cotter, Joan M. Hermsen, Seth Ovadia, Reece Vanneman: The glass ceiling effect. (PDF; 2,6 MB) In: Social Forces. 80, Nr. 2, 2001, S. 655–681. doi:10.1353/sof.2001.0091
12| Arbeitskreis »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder«, Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (Inland), 2019
13| Renate Köcher, Deutsche Fragen – deutsche Antworten: Das ostdeutsche Identitätsgefühl, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.7.2019.