Faschismus oder Demokratie; Barbarei oder Zivilisation

Stadtverband DIE LINKE Halle beteiligte sich an den Gedenkveranstaltungen zum 65. Jahrestag der Befreiung

65 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, wurde in Halle der Millionen Opfer gedacht, die der Krieg und die faschistische Diktatur mit sich brachten.  Der VVN-BdA lud zur Gedenkfeier an der Straße der Nationen auf dem Gertraudenfriedhof ein. Die Gedenkansprache hielt in diesem Jahr unsere hallesche Bundestagsabgeordnete Dr. Petra Sitte. Die Bedeutung des 8. Mai unterstrich sie mit einem Zitat des Historikers Prof. Stefan Doernberg: „Ich habe Verständnis, wenn heute manche vielleicht irgendeinen Tag im Jahr 1989 als den wichtigsten Tag ansehen oder andere denken, dass dies der 7. November 1917 mit der Oktoberrevolution war. Trotzdem neige ich, wenn man sich alles überlegt, aus einem Grund dazu zu sagen, der 8. Mai 1945 ist die wichtigste Zäsur des 20. Jahrhunderts, vielleicht nicht nur des 20. Jahrhunderts. Mit diesem Tag wurde die Frage entschieden: Gibt es weiter eine menschliche Zivilisation auf der Erde, oder gibt es sie nicht? Hätte der deutsche Faschismus in diesem Krieg gesiegt – die Möglichkeit darf man nicht völlig ausschließen –, würde es heute keine Zivilisation mehr geben. (…) Was danach hätte geschehen können, wäre nicht einmal mit einem Rückfall in eine Barbarei vergleichbar gewesen, es hätte mit der Zivilisation nichts mehr zu tun. Darum sage ich: Der 8. Mai ist der wichtigste Tag.“. Sie erinnerte an die Opfer aus allen Ländern Europas, setzte sich aber auch mit deutscher Erinnerungskultur und der aktuellen Debatte um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ auseinander. Sie sagte: „Und ein kritischer Blick ist erst recht angebracht, wenn in der in Berlin gebildeten Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ein ähnliches Konzept verfolgt wird: die Relativierung der Ursachen von Verfolgung und Vertreibung. Das beginnt, indem bereits die Begriffe Verfolgung und Vertreibung gleichsetzend benutzt werden für die Gräueltaten der deutschen Truppen in Osteuropa mit dem, was deutsche Flüchtlinge mit und nach dem Ende des Krieges erfuhren. Und es setzt sich fort, indem Ursachen und Anfänge des Krieges einfach ausgeblendet werden.“.
Auch auf dem Südfriedhof wurde den Opfern von Krieg und Faschismus gedacht. Hier zitierte Rainer von Sievers aus den Memoiren des sowjetischen Kulturoffiziers Wladimir Gall, der nach dem Krieg hier in Halle wirkte. Zahlreiche Mitglieder unserer Partei nahmen an dem Gedenken teil. Ist es doch eine wichtige Tradition unserer Partei, den 8. Mai als Tag der Befreiung zu begehen.

 


Dr. Petra Sitte, MdB, Fraktion DIE LINKE auf der Gedenkveranstaltung des VVN-BdA anläßlich des 65. Jahrestages der Befreiung auf dem halleschen Getraudenfriedhof am 8. Mai 2010

Faschismus oder Demokratie; Barbarei oder Zivilisation


Liebe Freundinnen und Freunde,
Meine Damen und Herren,

Es gehört zu den guten Traditionen, dass sich in zahlreichen Städten Menschen in Erinnerung und Würdigung des 8. Mai 1945 zusammenfinden. Und es gehört zu der mit diesem Datum verbundenen Tradition, dass dies zumeist auf Friedhöfen und an Gedenkorten für die Opfer des deutschen Nationalsozialismus geschieht.
Der 8.Mai 1945 war nicht nur das Ende des barbarischsten Krieges der Geschichte, er war vor allem der Tag der Befreiung der von deutschen Faschisten überfallenen Völker, der zahllosen Deportierten, in Vernichtungslagern Eingesperrten, zur Zwangsarbeit Verurteilten oder ins Exil Getriebenen. Dieses Datum markiert das Ende der deutschen staatlich organisierten Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Und dieses Datum steht mit der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands für das Ende faschistischer Besatzung in den überfallenen Ländern.
Der Tag des Sieges der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition ist und bleibt der Tag der Befreiung. Und er ist und bleibt der Tag der Befreiung auch des deutschen Volkes.
Der Berliner Historiker Prof. Stefan Doernberg hat den 8. Mai als den wichtigsten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet, ich will ihn kurz zitieren:
„Ich habe Verständnis, wenn heute manche vielleicht irgendeinen Tag im Jahr 1989 als den wichtigsten Tag ansehen oder andere denken, dass dies der 7. November 1917 mit der Oktoberrevolution war. Trotzdem neige ich, wenn man sich alles überlegt, aus einem Grund dazu zu sagen, der 8. Mai 1945 ist die wichtigste Zäsur des 20. Jahrhunderts, vielleicht nicht nur des 20. Jahrhunderts. Mit diesem Tag wurde die Frage entschieden: Gibt es weiter eine menschliche Zivilisation auf der Erde, oder gibt es sie nicht? Hätte der deutsche Faschismus in diesem Krieg gesiegt – die Möglichkeit darf man nicht völlig ausschließen –, würde es heute keine Zivilisation mehr geben. (…) Was danach hätte geschehen können, wäre nicht einmal mit einem Rückfall in eine Barbarei vergleichbar gewesen, es hätte mit der Zivilisation nichts mehr zu tun. Darum sage ich: Der 8. Mai ist der wichtigste Tag.“
Diese wichtigste Weichenstellung des zwanzigsten Jahrhunderts: das Ermöglichen weiterer Zivilisation durch den Sieg über den deutschen Faschismus  - konnte nur ein militärischer Sieg über Deutschland sein.
Nazi-Deutschland hatte mit dem Überfall auf Polen 1939 den zweiten Weltkrieg begonnen, ein Krieg mit barbarischen Vernichtungsfeldzügen und grausamer Besatzung zahlreicher Länder. Dieser Krieg kostete rund 55 Millionen Menschen - eine das Vorstellungsvermögen nahezu übersteigende Zahl - das Leben.
Wir verneigen uns vor den Soldaten der Alliierten, die ihre Länder befreit haben und die mit der Niederschlagung der deutschen Truppen auch Deutschland die Befreiung brachten.
Wir gedenken der Millionen Jüdinnen und Juden in Europa, die Opfer der faschistischen Vernichtungspolitik wurden.
Und wir ehren die so erschreckend Wenigen in Deutschland, die so Großes taten, indem sie ihre Mitmenschlichkeit bewahrten und den Mut zum Widerstand aufbrachten.
So zahllos und so oft namenlos die Millionen Opfer des deutschen Faschismus und des von ihm entfesselten Weltkrieges sind: Niemand sei vergessen: der sowjetische Kriegsgefangene nicht und nicht die polnische Zwangsarbeiterin, der französische Partisan nicht und nicht der Soldat der jugoslawischen Befreiungsarmee, die vergewaltigte Ukrainerin nicht und nicht der ungarische Jude.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Im Erinnern an das Jahr 1945 vermischen sich in der deutschen Öffentlichkeit nicht selten aufrichtiges Gedenken mit befremdlichen Einseitigkeiten. Da wird den Folgen des Krieges gedacht und sein mörderischer Anfang ausgeblendet. Die militärischen Siege der Alliierten, und an dieser Stelle füge ich ein, voran die der Sowjetunion, hatten 1945 den Krieg in das Land zurückgebracht, von dem er ausgegangen war.  Wer den Opfern der Bombennächte von Magdeburg, Dessau oder Dresden gedenkt, darf die Opfer nicht ausblenden, die die nationalsozialistischen Täter auch aus Magdeburg, Dessau und Dresden auf ihrem Gewissen haben. 
Es ist richtig und wichtig, sich entgegenzustellen, wenn alte und neue Nazis das Gedenken an diese Bombennächte nutzen, um ihrerseits der Täter, ihrer Großväter im Geiste, zu gedenken.
Wir sollten uns aber den kritischen Blick darauf nicht ersparen, ob das offizielle Gedenken an diese Bombennächte nicht selbst etwas ausblendet. Nämlich die unumstößliche Tatsache, dass es die militärischen Schläge der Alliierten waren, die die Befreiung vom deutschen Faschismus brachten.
Ich erinnere an den in Dresden gefangen gehaltenen tschechischen Zwangsarbeiter, den der MDR in einer Reportage zitierte:
„für mich war der 13.Februar in Dresden der Tag der Befreiung“.
Und ein kritischer Blick ist erst recht angebracht, wenn in der in Berlin gebildeten Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ein ähnliches Konzept verfolgt wird: die Relativierung der Ursachen von Verfolgung und Vertreibung. Das beginnt, indem bereits die Begriffe Verfolgung und Vertreibung gleichsetzend benutzt werden für die Gräueltaten der deutschen Truppen in Osteuropa mit dem, was deutsche Flüchtlinge mit und nach dem Ende des Krieges erfuhren. Und es setzt sich fort, indem Ursachen und Anfänge des Krieges einfach ausgeblendet werden.
Um es an dieser Stelle noch mal zu sagen, der zweite Weltkrieg mit Verfolgung, Flucht und Vertreibung hat seine Ursprünge in der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Wer dies ausblendet, blendet Wahrheit aus und muss sich den Vorwurf der Geschichtsfälschung gefallen lassen.
Und wenn von Deutschen auf der Flucht die Rede ist, spreche ich eben nicht zuerst von denen, die mit Kriegsende aus den sogenannten Ostgebieten usw. flohen. Ich spreche von denen zuerst, die zuerst in die Flucht getrieben, die aus ihrem Land verjagt wurden: von Anna Seghers und Albert Einstein beispielweise, von Willy Brandt und Bertolt Brecht.
In diesem Sinne bleiben wir bei gegenüber unserer Ablehnung der jetzigen Konzeption der genannten Stiftung.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Im Februar dieses Jahres ist es mit tausendfachem friedlichen Protest gelungen, einen geplanten Großaufmarsch von Nazis in Dresden zu verhindern. Dies ist ein großartiger Erfolg all derer, die sich an den Blockaden und anderen Aktionen beteiligt haben. Es ist auch ein Signal über Dresden, vielleicht über Deutschland, hinaus und es ist eine Ermutigung für alle Antifaschistinnen und Antifaschisten.
Geradezu absurd hingegen ist es, dass jetzt einige von denen, die mit ihrem friedlichen Protest den Nazis den öffentlichen Raum streitig gemacht haben, nun staatsanwaltliche Strafbefehle zugestellt werden, darunter nicht wenigen Mitgliedern und Abgeordneten der LINKEN.
Es ist und bleibt unsere gemeinsame dauerhafte Aufgabe, nationalistischem, antisemitischem und rassistischem Denken und Handeln den öffentlichen Raum streitig zu machen. Und ich meine den öffentlichen Raum in seiner Gesamtheit, und eben auch die Straßen und Plätze.
Der deutschen Schuld an Faschismus und Zweitem Weltkrieg kann man sich nicht entziehen. Auch nicht durch Verweis auf eine Gnade späterer Geburt. Aber wir können uns ihr in Verantwortung stellen für die Verteidigung der Demokratie und dazu gehört die Verteidigung des öffentlichen Raumes.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Der 8.Mai selbst hat nach 1945 eine unterschiedliche Geschichte in beiden deutschen Republiken. In der DDR, die Antifaschismus zu ihrem Gründungskonsens zählte, war er war er immer zentraler Gedenktag. Dies würdigend zu sagen, bedeutet nicht, den kritischen und selbstkritischen Blick auf die Defizite des offiziellen Antifaschismus in der DDR zu verstellen.
In der Bundesrepublik war der 8.Mai immer Gegenstand der Auseinandersetzung um die Anerkennung deutscher Schuld und deutscher Verbrechen. Genauer gesagt: mit dem 8.Mai verbanden sich in der Bundesrepublik vielfach Ablehnung und Abwehr gegen diese Anerkenntnis. Nicht der 8.Mai prägte das Bild bundesdeutscher Erinnerungskultur, vielmehr waren dies Vertriebenenverbände und Traditionszusammenhänge von Truppenteilen der faschistischen Wehrmacht. „Zusammenbruch“ oder „Tag der Niederlage“ oder „Stunde Null“ waren die Vokabeln.
Und es hat lange Auseinandersetzungen gebraucht, bis ein Bundespräsident das Wort vom Tag der Befreiung aussprach.
Und es wird wohl weiter die Auseinandersetzung darüber geben müssen, welchen Platz dieser „wichtigste Tag“ im Selbstverständnis des vereinigten Deutschland hat.
Die LINKE hat angeregt, den 8.Mai als gesetzlichen Gedenktag zu begehen. Ich halte diese Initiative für außerordentlich wichtig und ich wünsche diesem Anliegen eine breite demokratische Zustimmung.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Wer über die Befreiung vom deutschen Faschismus als die einzige Chance der weiteren Ermöglichung von Zivilisation spricht, muss sich der Frage stellen, wie diese Zivilisation vor dem Rückfall in die Barbarei bewahrt werden könne.
Es waren die siegreichen Alliierten, die in den Nürnberger Prozessen gegen die Nazi- und Kriegsverbrecher klarstellten, dass keine nationalsozialistische Legalität und kein sogenannter Befehlsnotstand Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtfertigen.
Und Eingang in die Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland hat der Satz gefunden: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Der und dem Einzelnen muss unabänderlich ein individueller Kernbereich gehören, der durch keinerlei staatliche Zwecksetzung angetastet werden darf. Die Grundrechte als Abwehrrechte einer und eines Jeden gegenüber dem Staat ist Kern und unverzichtbare Bedingung von Demokratie, von Zivilisation.
Und genau darin besteht der Gegensatz: Faschismus oder Demokratie, Barbarei oder Zivilisation.
Deshalb ist es unsere Verantwortung, jeder Geringschätzung oder Einschränkung von Demokratie, jedem Antasten der Rechte einer und eines Jeden entgegenzutreten.
So bleibt Befreiung dauerhaft möglich, und nur so.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Befreiung und Kriegsende haben nach 1945 in beiden deutschen Republiken ihre Reflektion in dem Satz, der Forderung und der Hoffnung des NIE WIEDER ! gefunden.
Wie weit die Sehnsucht nach Frieden von der Realität noch oder wieder entfernt ist, sehen wir heute deutlich. Das geeinte Deutschland hat Krieg wieder zum Mittel der Politik gemacht. Und es verdient sich wieder gut an deutschen Rüstungsexporten.
Geben wir die Hoffnung nicht auf, dass eine friedliche Welt möglich ist. Bleiben wir bei unseren Forderungen, deutsche Kriegseinsätze zu beenden, und Rüstungsexporte zu beschränken.
Bleiben wir also dabei:
Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!
Ich danke Ihnen und Euch für die Aufmerksamkeit.